Kennt ihr das? Ihr bastelt an einem Charakter und verleiht ihm Aussehen, Eigenarten, Stärken, Schwächen und eine Vergangenheit. Bei der Sprache halte ich jedoch meist inne und zweifel. Damit eine Figur heraus sticht, sollte der Leser sie schon an ihrer Sprache erkennen. Dabei bediene ich mich gerne an bestimmten „festen Begriffen“, die nur die Figur benutzt. Sei es ein Fluch, ein bestimmter Ausruf oder dass sie regelmäßig ohneKommaundLeerzeichenredetweilsiesovielzusagenhat. Wer die Bücher von Terry Pratchett kennt, erinnert sich vielleicht an seine Sprachspiele wie bei TOD oder den Igorf. 😉
Innerhalb meines Lehrgangs bei der Schule des Schreibens hat man mir geraten, mit meiner Figur ein Zwiegespräch zu führen. Man solle also annehmen, die Figur säße vor einem, rede mit einem, stelle sich vor.
Ich habe eine andere Variante entwickelt: Zwiegespräch 2.0 sozusagen.
Ich chatte.
Im ersten Moment klingt das bescheuert, ja. Aber das Internet, besonders Chats ohne Registrierungspflicht bieten ungeahnte Möglichkeiten. Per Mausklick bin ich User3964 oder User1144. Ich kann mich innerhalb von Sekunden wandeln und sein, wer ich möchte. Bzw. kann ich in die Rolle meiner Figur schlüpfen, die schließlich immer ein Teil meines Selbst ist. Dann weiß ich sofort alle Details oder entdecke die Fehler und Lücken in der Charakterisierung. Stimmt das Aussehen, die Vergangenheit, die Art, wie ich spreche/chatte? Mein Gegenüber ahnt nicht vom Experiment, aber ich teste dadurch meine Verbundenheit zur Figur. Wie würde sie reagieren, wenn man ihr eine bestimmte Frage stellt? Wie würde sie antworten? Frei heraus, zögernd, ausschweifend? Würde sie Lachen? Die Augen verdrehen?
Was will man mehr? Die besten Texte entstehen, über Dinge, die man schon erlebt hat. Durch einen Chat bin ich meiner Figur ganz nah. Für diesen Moment bin ich die Figur.
Moralisch gesehen ist es nicht fair, sich zu verstellen. Doch woher soll man wissen, wer sich hinter dem Gesprächspartner verbirgt? Hinter stranger82 kann sowohl ein zwölfjähriges Mädchen stecken, das sich älter machte, oder ein fünfzigjähriger Bänker, der sich wieder jung fühlen möchte. Gerade das Internet bietet den Menschen eine unbeschreibliche Anonymität. Zwischen all den Chatnamen, gefälschten Accounts und vorgelogenen Geschichten hoffe ich, fällt eine Autorin mit zu vielen Persönlichkeiten nicht weiter auf. (Schließlich binde ich es auch niemand auf die Nase.)
Aber ich teste prinzipiell bei keinem Flirtchat oder dergleichen! Bei den meisten Chats gibt es einen neutralen Willkommensbereich, in dem alle unregistrierten Gäste zunächst eintrudeln. Dort sind eben die Hauptthemen, wie man heißt, woher man kommt und welche Hobbies man hat. Der ideale Ort also, um eine Figur zu finden.
Leider habe ich dadurch auch ein Problem festgestellt: Ich rede nicht wie ein Mann. (Anderseits: Gott sei Dank! 😉 ) Und wenn doch, dann rede ich nicht wie ein männlicher Mann… Ihr wisst schon, grob, ungehobelt, machomäßig. Ich habe es probiert, und es ging gar nicht. Zum Glück kann ich in diesem Fall auf Dominic zurückgreifen, der genug Machos in seinem Leben getroffen hat. Wir schauspielern dann zusammen: Ich bin der Gegenpart (Frau, Kumpel, Mutter) und er gibt als Macho Antwort.
Diese Art der Figurenfindung macht mir unheimlich Spaß. Nicht nur, weil ich ein Gefühl für Sprechweisen bekomme. Bei jedem Chat begegne ich neuen Menschen und hier und da wird einem ein faszinierender Eindruck oder eine neue Idee geschenkt. Das alleine ist schon die Erfahrung wert!.
Zeitgemäß, lebensnah, coole Idee! Solche Tipps sollten es in Autorenratgeber schaffen!