Ich dachte, meine Schulzeit sei vorbei? Ich dachte, ich hätte mein Abitur längst hinter mir? Warum fühlte sich dann das erste Aufstehen nach den Osterferien noch genauso schlimm an? Es bleibt wohl immer eine quälende Erfahrung, wenn am Montag nach den Ferien der Wecker klingelt. Dazu kam, dass der Mai seine bestechenden Eigenschaften vergessen hatte. Wärme und Sonne. Seit Beginn meiner Fahrt nach Rhinow verfolgten mich dicke graue „Independence Day“ – Wolken (falls man sich noch an den Film erinnert) und es schüttete, es hagelte, die Sonne tauchte kurzzeitig auf. Es schneite! Ja, wirklich. Als ich in Rhinow in meine Parklücke gerollt war, rieselten es weiße Flocken vom Himmel. Ich hätte gerne ein Beweisfoto gemacht, aber meine Kamera befand sich in der Tasche im Kofferraum. Aus unempfindlichen Gründen wollte ich mich nicht von meiner Heizung trennen.
Rhinow war ein überschaubares Örtchen in der Nähe von Neuruppin und Wusterhausen / Dosse. Wenn man die Tankstelle, die Volksbank und den Euronicsladen gefunden hat, hat man eigentlich alles gesehen. Die Lilienthal Grundschule war in einem alten Gebäude ansässig, das mich sofort an eine alte Dorfschule denken ließ. Die Treppen knarzten, Blümchenvorhänge zierten die Fenster und wenn man die Treppe zur Dachetage erklomm, begrüßte einem die Dachschräge. Dafür waren die Gänge umso bunter geschmückt mit Fotos von Ausflügen, Berichten und Beiträgen der Zirkuswochen und jede Menge Bilder. Ein paar Stillleben haben mich fast vor Neid erblassen lassen.
Überrascht war ich jedoch von den vielen großen (und auch toten) deutschen Schriftstellern, die mir in den Klassen entgegen blitzen. Die fünften Klassen führen Szenen aus Goethes Faust als Theaterstück auf, Fontane wird noch gelesen und Novalis‘ Weisheiten prangten an den Wänden. Ich war … recht … sprachlos. Zu meiner Schulzeit haben wir uns immer gegen diese „alten Schinken“ gewehrt, aber die Schüler in Rhinow schienen ganz versessen darauf zu sein.
Die erste Lesung fand vor den beiden sechsten Klassen statt. Zusammen waren es kaum 30 Kinder, dieses stellte sich als eine gemütliche Veranstaltung heraus. Die Schüler waren etwas unruhig, aber an meinem ersten Tag nach den Ferien hätte ich auch lieber mit meinem Nachbarn gequatscht, als still zuzuhören … Wenn man die Unruhestifter auseinandersetzt, funktioniert es meist; ohne weitere Konsequenzen. Bei meinen ersten Lesungen hätte ich mich gar nicht getraut, Kinder umzusetzen oder welche vor die Tür zu schicken, weil sie dreisterweise vor meine Nase stören und andere ebenso anstacheln. Aber mittlerweile schon. Meine Besuche sind meist nur eine Schulstunde lang und ich persönlich empfinde es schade, wenn die Lesung für die Klassen kein schönes Erlebnis wird, weil man eine Ewigkeit auf die Einkehr der Ruhe wartet.
Als Berufswünsche stellten sich heraus:
- Gabelschleifer und Laternenauspuster – ob sie das in sechs Jahren wohl auch noch machen wollen?
- Archäologinnen und ein Archäologe mit einer Spezialisierung für Ägypten
- Titanic – Erforscher
- Mafiaboss
- Maler und Verputzer
- Auftragskiller
- Und die heiß begehrten Karrieren als Model, Reitlehrerin und Tierpfleger
Für die zweite Runde wechselte ich in den Neubau und wurde sogleich mit einem weiteren Novum konfrontiert: Timmy als Unterrichtsstoff. Die Klassenlehrerin besprach die Erwartungshaltung, die der Titel auslöste. Die Schüler mussten abwechselnd die erste Seite der Leseprobe vorlesen. Erst dann setzte ich ein; alles war fest eingeplant. Da die Klassenlehrerin äußerst engagiert war, ihren Schülern Literatur näher zu bringen, schlug sie mir vor, ob ich nicht mit den Kindern eigene Geschichten schreiben könnte. Als gelungene Abrundung und auch als Gelegenheit, diese mithilfe eines Autors zu verfassen. Zu meinem Glück habe ich schon vor Wochen meinen Workshop für Ende Mai geplant und so musste ich mich nur an die einzelnen Punkte erinnern. Okay, es war improvisiert, ohne Material und ich musste mich anstrengen, mich nicht komplett zu verrennen. Daher beschränkte ich mich darauf, was eine Geschichte ausmacht, was die Grundpfeiler sind und ging dann rasch über, die Schülerideen zu sammeln. Die Kinder waren unglaublich kreativ! Von einer Elfenliebesgeschichte (à la Romeo & Julia mit Happy End), einem Jungen, der mit Schulproblemen zu kämpfen hat und bis zu einer neuen Episode von Roadrunner & Coyote war alles dabei. Als Hausaufgabe sollen die Schüler ihre Geschichten zu Ende schreiben und die Lehrerin schickt sie mir dann netterweise per Email zu. Ich bin schon gespannt. 🙂
Leider habe ich keine Fotoberechtigung erhalten und hoffe ich kann dies mit ein paar Infos zur Region wettmachen. Ich bin durch viele, viele Dörfchen gefahren, deren Namen ich mir nicht ansatzweise merken konnte. Aber das Rhin – Dosse – Luch besticht mit seiner Natur und dem Charm seiner kleinen Ansiedlungen. Auch wenn ich so gut wie keine Menschen gesehen habe – woran das Wetter wahrscheinlich schuld war – bin ich doch auf einige Dinge gestoßen. Zum ersten Mal bin an ‚Vorsicht Kühe‘ – Schildern vorbeigefahren. Dass Rehe gerne die Fahrbahn überqueren, ohne auf den Verkehr zu achten, wusste ich. Aber Kühe? Okay …
In der Region existiert tatsächlich ein Flüsschen, das ‚Neu-Amerika‘ heißt. Für mich Auswirkung einer Zuwandererwelle von Amerikanern nach Brandenburg. In Sieversdorf (zwischen Rhinow und Neustadt) kann man gut erhaltene Ernhäuser besichtigen. Diese besitzen eine spezielle Bauweise (Stallhäuser), die im Mittelalter für die Mitte Deutschlands typisch waren. Ich bin an einer Filmtierschule vorbeigefahren! Ich wusste gar nicht, dass es überhaupt eine Deutschland gibt, schon gar nicht in Brandenburg. Daher schaut euch doch mal die Internetpräsenz an. Die vielen Fotos der Produktionen, Werbungen und Aufnahmen mit Schauspielern sprechen für sich! http://www.filmtierschule-harsch.de/
Und überall blühte der Löwenzahn so wie hier: